Am 28. Juli wird in Venezuela der neue Präsident gewählt. Der Machthaber Nicolás Maduro will die Wahl gewinnen. Maduro selber regierte das Land bisher mehr schlecht als recht. Ihm gegenüber steht ein weitgehend unbekannter Diplomat. Seine Chancen gewählt zu werden sind dennoch intakt. Aber egal wie die Wahl ausgeht: Dem Land steht die wohl grösste Krise der letzten Jahre bevor.
Der Knall folgte im Jahr 2018, als Venezuela die grösste Wirtschaftskrise seiner Geschichte erlebte. Vom reichsten Land Lateinamerikas wurde es zum ärmsten.
In diesem Jahr erreichte die Hyperinflation ihren Höhepunkt, die Wirtschaft schrumpfte drastisch, und von einem Tag auf den anderen leerten sich die Regale in den Supermärkten. Die Menschen hatten nichts mehr zu essen oder beschränkten sich auf Arepa – ein Pfannkuchen aus Maismehl. In den Krankenhäusern fehlten die Medikamente und bald auch die Ärzte.
Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erreichte die Inflationsrate 2018 schwindelerregende 1.000.000 %. Bis Ende 2016 hatte Venezuela mehr als 30% seines BIP innerhalb von drei Jahren verloren.
Die Krise führte zu einer massiven humanitären Notlage und einer grossen Auswanderungswelle. Seit Beginn der Krise haben über 7,7 Millionen Menschen das Land verlassen. Eltern verliessen das Land, um eine neue Heimat zu suchen, deren Kinder blieben bei den Grosseltern. Diese konnten ihre Enkelkinder nicht mehr ernähren - die Kinderheime platzen auch heute noch aus allen Nähten.
„Wir konnten das Haus nicht mehr verlassen. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“
Die Gewaltdelikte auf den Strassen waren Alltag. „Wir konnten das Haus kaum noch verlassen. Wer Geld von der Bank abheben wollte, wurde direkt hinter der Ausgangstür der Bank überfallen“, sagt Juan*, ein 32-jähriger Venezolaner. „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“
Das erdölreichste Land der Welt konnte sein Öl nicht mehr fördern. Den Menschen fehlte es an allem.
Die Parlamentswahlen im selben Jahr waren ein Abbild der gesamten Situation: Sie endeten in einem Fiasko für die Opposition. Maduro zeigte der Welt, dass er der rechtmässige Präsident sei, koste es, was es wolle.
Seit über zehn Jahren führt Maduro das Land. Nicht mit eiserner Hand; dafür ist er zu schwach. Seine Gefolgschaft, die sogenannten Chavistas (Anhänger von Hugo Chávez, der Maduro als seinen rechtmässigen Nachfolger bestimmt hatte), lenkt, wohin die Reise des Landes geht.
Einladungen der Regierung erfolgen per Whatsapp.
Das tun sie übrigens nicht mit einem geordneten Jahresplan. Der Plan wird von Woche zu Woche bestimmt, und Entscheidungen fallen meist innerhalb weniger Stunden. Entsprechend chaotisch funktioniert auch der Miraflores-Palast, der Regierungssitz von Nicolás Maduro. Neue internationale Botschafter, die frisch ins Land kommen und protokollgemäß vom Präsidenten empfangen werden sollen, erhalten oft wenige Stunden zuvor ihr Aufgebot – per WhatsApp. Oft wird dieses Aufgebot zehn Minuten vor dem Termin annulliert.
Wer den Grund erfahren will, muss einfach den Fernseher einschalten oder Instagram öffnen: Dort sitzt Maduro in seiner Livesendung und redet über die Wirtschaft und darüber, dass das Land auf gutem Wege sei – täglich grüsst das Murmeltier.
Drei Szenarios nach den Wahlen
Die Wirtschaft im Land hat sich seit 2018 nur leicht erholt, auf einem niedrigen Niveau, auch dank der Lockerung einiger weniger Sanktionen der USA. Wer hingegen durch die Strassen der Hauptstadt Caracas fährt, könnte meinen, dass es mit dem Land aufwärts geht: Die Markierungen in den Strassenzügen wurden erneuert, Wände entlang der Autobahn neu bemalt. Das ist natürlich ein immerwährender psychologischer Kniff der Regierung: Neu bemalte Strassenzüge vermitteln den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck, dass es dem Land besser geht, was natürlich nicht der Realität entspricht. Das Land steht nach wie vor schlecht da. Unter diesen widrigen Umständen soll also ein neuer Präsident gewählt werden.
Unter diesen Umständen ist die Hoffnung vieler Venezolanerinnen und Venezolaner gross, dass sich etwas ändert. Die Lage ist angespannt – sowohl beim Regime als auch bei der Opposition. Für die Opposition ist die Zeit günstig, jetzt etwas zu ändern.
Die aussichtsreichste Kandidatin, María Corina Machado, darf nicht kandidieren. Alle anderen Kandidaten sind entweder nur eine Scheinopposition oder haben schlicht keine Chance. Kaum jemand macht Wahlkampf, weil sie das Feld Maduro überlassen wollen.
Nun konnte María Corina Machado einen Platzhalter auf die Liste schmuggeln: Edmundo Gonzalez, 74, ein ehemaliger Diplomat. Ein ruhiger, besonnener Mann, der bisher kaum bekannt war. Auch die Regierung hatte ihn überhaupt nicht im Fokus, weshalb sie von seiner Kandidatur komplett überrascht wurde. Wobei man auch sagen muss: Selbst Gonzalez scheint bis jetzt nicht wirklich realisiert zu haben, dass er auf der Liste steht.
Wie reagiert also das Regime? Grundsätzlich muss gesagt werden: Die Wahlen sind nicht fair. Maduro hat alle Möglichkeiten, die Wahlen zu manipulieren; so auch das Resultat (die Wählerinnen und Wähler wählen im Wahllokal „online“, also via Wahlmaschine. Die Wege, die diese Resultate nehmen, sind unergründlich und manipulierbar; Wahlbeobachter sind keine zugelassen).
Maduro könnte…
• …die Wahlen zu seinen Gunsten manipulieren und an der Macht bleiben.
• …die Wahlen gewinnen und alles bleibt wie es ist. Die Opposition wird festgenommen oder muss
das Land zu verlassen.
• …die Wahlen verlieren, das Resultat akzeptieren und die Macht an die Opposition übergeben
(unwahrscheinlichstes Szenario).
• …die Wahlen verlieren, sie für ungültig erklären und aufgrund „aufgetretener
Unregelmässigkeiten“
eine Wiederholung zu einem späteren Zeitpunkt anordnen (wahrscheinlichstes Szenario).
• …die Wahl kurz davor annullieren, da sich das Land im Kriegszustand befinde. Seit Jahren streitet
Venezuela mit dem Nachbarland Guyana um dessen Landesteil „Essequibo“.
• …die Wahl verlieren, sich jedoch mit der Opposition überwerfen und die Macht erneut
übernehmen.
Egal wie die Wahlen ausgehen, das Land wird in eine grössere Krise stürzen als je zuvor. Denn selbst wenn die Opposition die Macht übernimmt, wird es eine Herkulesaufgabe sein, das Land wirtschaftlich wieder aufzubauen. Ganz zu schweigen von den tausenden Chavistas, die sich nicht einfach der Opposition anschließen werden. Hinzu kommt das Militär, das bisher zu Maduro gehalten hat. Es muss beruhigt und auf Opposition getrimmt werden. Die Zahl der Arbeitslosen (und nicht mehr in der Regierung sitzenden) Menschen wird in die Höhe schnellen.
Die Wirtschaft wird sich nicht schnell erholen, weshalb das Vertrauen in die Opposition schwinden wird.
Und was passiert mit Maduro und seiner nahen Gefolgschaft? Wird er das Land verlassen und nach St. Vincent oder Russland auswandern? Selbst wenn Maduro die Wahl gewinnt: Die USA wird (unter Trump?) die Sanktionen verschärfen, Maduro wird sich weiter abschotten und das Land härter regieren. Millionen von Menschen werden das Land verlassen.
Die Zeiten werden nicht einfacher. Möglich ist, dass Maduro wiedergewählt wird. Wie mir kürzlich eine Venezolanerin aus dem Mittelstand erklärte: Ja, die Zeiten seien schwierig. Aber sie habe sich arrangiert und in den Wirren dieser wirtschaftlichen Lage eine eigene Arbeit aufbauen können, sie habe eine Nische gefunden. Darum werde sie Maduro wieder wählen, obwohl sie seine Regierung missachtet. „Wenn die Opposition an die Macht kommt, wird alles einstürzen, auch meine Arbeit.“
*Namen geändert
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